Clowns als Therapeuten.
Der «dumme August» als Verbündeter

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Ernst Jonny Kiphard


Das fasziniert uns Erwachsene, aber mehr noch die Kinder an der Clownrolle? Kasper, August, Clown sind fröhliche Spassmacher, lustige Rebellen, die den Mut haben, etwas zu wagen, das Durchschnittsbürgern nicht erlaubt ist: der Obrigkeit ein Schnippchen zu schlagen, ihr die Zunge rauszustrecken. So entwischt der Kasper dem Polizisten, der ihn gerade verhaften will. Und auch das Krokodil, das ihn beissen und womöglich fressen will, kriegt vom furchtlosen Kasper welche aufs Maul. Das imponiert besonders denjenigen - Erwachsenen wie Kindern - die durch Erziehung, Familie, Schule oder Beruf unterdrückt, untergebuttert und in ihrer Freiheit und Handlungsfähigkeit behindert werden. Wir alle fühlen uns, wenn wir ehrlich sind, durch viel zu viel Verbote in unserem überreglementierten Erwachsenendasein mehr oder weniger beeinträchtigt. Nicht wenige möchten auf irgendeine Weise diesen

persönlichen Beschränkungen und Einengungen durch 1000 Vorschriften, geschriebene und ungeschriebene Gesetze, entgehen. Man möchte am liebsten einfach aussteigen und allen Ballast abwerfen, für eine Weile wenigsten. Aber am Ende stellt man resignierend fest, dass einem die Hände gebunden sind und dass eine grenzenlose Freiheit utopisch ist. Man wird, ob man will oder nicht, Regeln beachten und Vorschriften einhalten. In unserer Gesellschaft gibt es eine Ausnahme: die Karnevalszeit. Hier darfjeder einmal im Jahr blödeln so viel er oder sie will. Es herrscht Narrenfreiheit. Man darf über die Stränge schlagen, übermütig sein und in ein anderes Ich schlüpfen. Jeder kann hier einmal ungestört seinen Emotionen freien Lauf lassen und seine Seele aussingen. Karneval ist eine genehmigte, zeitbegrenzte Rebellion gegen die Langeweile und Stumpfheit, gegen die starren Ordnungen unserer Gesellschaft.


Clowus erschüttern die
So-muss-es-sein-Welt

Zurück zum Clown, zur Clownin oder Clownesse, zu den Spassmachern und Hofnarren: Sie verletzen unbekümmert und am laufenden Band Regeln und Normen und machen sich auch noch darüber lustig. Sie tun gerade das nicht, was man von ihnen erwartet.
Sondern oft gerade das Gegenteil davon. Das reizt zum Lachen. Statt auf einen Stuhl, der ihm angeboten wird, setzt sich der dumme August daneben auf den Boden und verletzt damit die Normen. Statt das gerade umständlich ausgebürstete Jackett auf einen

Bügel zu hängen, breitet er es vor sich auf dem Boden aus und benützt es als Fussabtreter. Zumeist wird er dabei vom Weissclown, der im Zirkus als überlegener Verstandesmensch die Autorität schlechthin darstellt, gerügt, beschimpft oder auch bestraft. Aber - ähnlich dem Kasperle gelingt es dem bauernschlauen August mit den Mitteln des Unsinns und der Unlogik die logische Vernunft des Weissclowns ins Wanken zu bringen oder ad absurdum zu führen. Wie heisst es noch in Shakespeares «König Lear»? «Er gebraucht die Narrheit wie ein Versteck, aus dem er den Verstand abschiesst».

Die gesellschaftliche Rolle des Clowns

Es war schon in der Commedia dell'Arte des 16. und 17. Jahrhunderts üblich, dass der unterlegene, gesellschaftlich tief stehende HARLEKIN (Arlecchino) in der Dienerrolle durch Schlauheit und Dreistigkeit doch immer wieder hintenherum zu seinem Recht kam und die Obrigkeit an der Nase herumführte. Damit brach er als übermütiger Rebell im närrischen Spiel die soziale Hierarchie auf. So haben all dummen Auguste, alle Harlekins und Clowns die Sympathie der kleinen Leute und natürlich auch der Kinder, insbesondere der behinderten Kinder auf ihrer Seite. Denn auch ihre Situation ist gekennzeichnet durch ihr Anderssein, durch die leidvolle Erfahrung ihrer absoluten Abhängigkeit von den alles

wissenden und alles könnenden Erwachsenen. Clowns im weitesten Sinne eine Sprache, die Kinder und behinderte Menschen auf Anhieb verstehen. Ob sie nun beim Misslingen einer Handlung herzerweichend weinen oder vor Freude überschwängliche Kapriolen schlagen: die Kinder schwingen emotional mit, sie zeigen echtes Mitgehühl, weil sie im Clown oder in der Clownesse unterdrückte Menschen ihresgleichen sehen. Kinder unterhalb eines Alters von vier Jahren identifizieren sich sogar so weitgehend mit dem dummen August, dass sie weinen, wenn er weint. Erst ältere Kinder haben den notwendigen kritischen Abstand zu dem Geschehen, um trotz ihrer Empathie die clownischen Spässe als Spiel und nicht als Realität anzusehen.


CIowns - eine Gefahr für die Disziplin?

Der Gedanke liegt nahe, dass Clownerie in der Nicht-Karnevals-Zeit als Verstoss gegen das Normative, Vernünftige, Traditionelle, Kinder und behinderte Menschen zum Ungehorsam und zur Rebellion verleitet. Dazu muss gesagt werden, dass es sich bei den komischen Clownauftritten nicht um Realität handelt, sondern um übermütiges Spiel. Das wissen auch Menschen mit Behinderungen zu unterscheiden. Und sie freuen sich über die Spässe des ungeschickten Tolpatsches. Das allein ist schon ein pädagogischer Gewinn. «Freude ist das am meisten vernachlässigte Getühl» meint Marianne Frostig mit Recht.
Freude geht immer mit vergnügtem Lächeln oder herzhaftem Lachen einher. Damit wird

ein wichtiges emotionales Ventil geöffnet, das Spannungen entlädt und befreiend wirkt. Lachen ist ein psy chohygienisch reinigender Vorgang, eine urgewaltige Ausdrucksbewegung, der eine Phase der Gelöstheit und Entspannung nachfolgt.
Der lachende Mensch, ob behindert oder nicht, wehrt sich mit dem Lachen gegen alle Erduldungen, Zurücksetzungen und Verletzungen, denen er im Leben ausgesetzt war. Es ist so etwas wie ein Aufbegehren, ein Gegenangriff, mit dem sich der lachende Mensch laut und polternd als Sozialpartner bemerkhar macht. Als soziales Phänomen legt Lachen nach Bergson (1972) das Starre, Unbewegliche und Unlebendige unserer gesellschaftlichen Normen bloss und versucht sie zu korrigieren.


Behinderte Menschen in der Rolle des Beschützers.

Der Philosoph Usinger bezeichnet die tolpatschigen Clowns als wahnwitzige Kämpfer gegen den Wahnwitz der Welt. In seiner viel zu großen Kleidung steckt ein wundergläubiges Kind, das sich immer wieder aufs Neue in die Fallstricke des Lebens verstrickt. Seine Wut gegen die Tücke des Objekts lässt er, genau wie ein kleines Kind eben an diesen feindlichen Gegenständen aus. Sie sind für ihn keine leblose Materie, sondern beseelte Wesen, denen er sogar bösen Willen unterstellt. Deshalb tritt er wütend nach dem «bösen» Stuhl, an dem er sich gerade gestossen hat. Dabei verletzt er sich aufs Neue. In solchen Momenten wechseln behinderte Kinder und Jugendliche spontan von der Zuschauerrolle in die Rolle des eingreifenden Helfers. Sie setzen sich, um ein neues Unglück zu verhindern, einfach auf den Stuhl oder räumen ihn wortlos beiseite. Damit übernehmen sie Verantwortung für den dummen August, der die Tragweite seines Handelns nicht übersieht und sich dabei selbst immer wieder in Gefahr begibt. Das spontane Helfen beginnt beispielsweise schon der Situation des Zeitungsaustragens durch den Clown. Er klemmt sich viel zu viele Zeitungen unter den Arm, so dass ihm beim Weitergehen immer wieder einige Zeitungen entgleiten und auf den Boden fallen - ein alter CIowntrick. Sofort sind emsige Helfer zur Seite, die alle heruntergefallenen Zeitungen auflesen, um ihrem geliebten Clown die Blamage zu ersparen.

Beispiel: Turmbau und Seiltanz
Mir sind zahlreiche Beispiele in Erinnerung, wo behinderte Kinder und Jugendliche durch beherztes Eingreifen das Schlimmste zu verhindern suchten. Da will der dumme August z.B. nach grossspuriger Ankündigung mit Hilfe von grossen Backsteinen aus Schaumstoff «den höchsten Turm der Welt» bauen. Dabei bringt er immerwieder das wackelige Bauwerk durch unbedachte Bewegungen zum Einsturz nach dem Motto: was man mit den Händen aufbaut, stösst man mit dem Hintern wieder um. Oder der Clown bzw. die Clownin knotet das Ende eines langen dicken Seils in Vorbereitung für einen Seiltanz an die oberste Sprosse einer Stuhllehne und versucht nun, mit dem anderen Seilende einen zweiten, weiter entfernt stehenden Stuhl zu erreichen. Er tut das mit solchem Schwung, dass der erste Stuhl krachend zu Boden fällt. Der Clown fährt erschrocken herum in der Annahme, jemand von den Zuschauern hätte absichtlich den Stuhl umgeschmissen. Dann geht er kopfschüttelnd auf den umgefallenen Stuhl zu und richtet ihn umständlich wieder auf. Im zweiten Teil der Handlung erreicht der Clown mit dem Seilende in der Hand tatsächlich den zweiten Stuhl. Beim Festknoten reisst er aber zu kräftig am Seil, so dass der erste Stuhl abermals umfällt. Während er hinrennt, um den Stuhl wieder aufzurichten, zieht er wiederum zu fest am Seil, sodass nunmehr der zweite Stuhl krachend hinfällt. Das Spiel liesse sich im Grunde endlos fortsetzen, wenn nicht die Kinder dem Malheur dadurch ein Ende bereiten würden, indem sie sich entschlossen zum Stabilisieren der

umkippenden Stühle einfach drauf setzen. Gut, dass das Seil genügend dehnbar ist, so dass aus dem Hochseil am Ende ein am Boden liegendes «Tiefseil» geworden ist, über das die Kinder gefahrlos drüber balancieren können. Oder der dumme August will einen altmodischen, gestreiften Liegestuhl aufbauen und verheddert sich dabei mit seiner Kleidung und seinem Hosenträger hoffnungslos in der widerspenstigen Materie. Immer sind Kinder und Jugendliche zur Stelle, um den hilflosen August aus seinen Verstrickungen zu befreien.

Beispiel: über eine Brücke gehen
Im Clownspiel mit einer Klasse geistig behinderter Schülerinnen und Schüler aus einer Sonderschule für Praktisch Bildbare hatte ich eine ziemlich wackelige Brücke gebaut, deren Brett nicht auf soliden Pfeilern ruhte, sondern auf zwei leicht zusammendrückbaren Schaumstoffstapeln. Als ich mich anschickte, von einem Stuhl aus diese unsichere Brückenkonstruktion zu betreten, riefen alle: «Nein, tu das nicht, August, du fällst runter!» Ich blieb aber unbelehrbar und betrat siegessicher die Brücke. Und wie die Kinder vorausgesagt hatte, sie krachte in sich zusammen. Dabei fiel ich unsanft auf den Boden und fing an, jämmerlich zu weinen. Sofort wurde ich von einem pubertierenden Mädchen mit Down-Syndrom getröstet. Mit besorgter Mütterlichkeit brachte sie meine Kleidung in Ordnung und setzte mir meine heruntergefallene Clownperücke wieder auf. Sie war es auch gewesen, die sich mit einem energischen «Nein» auf einen Stuhl setzte, mit dem ich mir kurz vorher beim Versuch, ihn auf meiner Stirn zu balancieren, weh getan hatte, als er mir dabei auf den Kopf fiel. Und als ich es jetzt ein zweites Mal versuchen wollte, liess sie das nicht zu. Ich, der dumme August sollte mich nicht noch einmal verletzen. Zurück zur wackeligen Brücke. Nachdem ich mit Weinen aufgehört hatte und meine das Schicksal anklagenden Worte: «Ich bin direkt mit der Schnauze auf die Fresse gefallen» endlich stoppte, überraschten mich meine behinderte Spielgefährten mit einer didaktischen Meisterleistung. Sie hatten das Brett auf die Sitzflächen zweier Stühle gelegt und machten mir Mut, noch einmal drüber zu gehen. «Du brauchst keine Angst zu haben, jetzt hält die Brücke«. Jedoch ich jämmerliches Häufchen Unglück stand da mit vor Angst schlotternden Beinen und schüttelte nur den Kopf. Darauf gingen die Jugendlichen, einer nach dem anderen über die Brücke und riefen mir immer wieder zu: «Guck, August, es geht!» Und dann nahmen sie mich rechts und links bei der Hand und führten mich über die Brücke.
Für mich war das ein pädagogisches Lehrstück, vorgeführt von einbühlsamen jungen sogenannten geistig behinderten Menschen. Das Ganze wurde zudem von einem Mitschüler erstaunlich frei und humorvoll kommentiert, der das in der Nähe befindliche Mikrophon spontan ergriffen hatte und sich als glänzender Reporter erwies. Die Lehrkräfte berichteten mir hinterher übereinstimmend, dass sie ihre Schüler und Schülerinnen noch nie so aktiv und initiativ erlebt hatten und dass es ihnen bis dahin gar nicht bewusst war, was in ihnen steckt.


«Clownstage» in der Schule?

Vielleicht, dachte ich mir, fordert der übliche Sitzunterricht, bei dem die ganze Aktivität vom Lehrer ausgeht, kaum die Einzelinitiative der Schülerinnen und Schüler heraus. Und ich hatte die Vision, dass ein Schultag in der Woche zum Clownstag erklärt wird, bei dem das Klassenzimmer in eine Zirkusmanege umfunktioniert wird und die Lehrer die «Oberclowns» spielen oder sich, noch besser, nach dem Schminken zur Freude der Kinder in den August verwandeln.
In diesen Clownstunden könnten den Kindern interessante physikalische Erfahrungen spielerisch vermittelt werden wie in den geschilderten Beispielen der immer wieder umkippenden Seiltanzstühle oder der Brückenkonstruktion. Auch die Konstruktion einer Wippe und das Austarieren der Gewichte der darauf sitzenden Kinder nach dem Waageprinzip gehört hierher. Das kann sehr lustig sein, wenn jemand, der ganz dünn ist, hoch oben auf dem Wippenschenkel sitzt, weil unten ein gewichtigeres Kind Platz genommen hat und überlegt werden muss, wie man den Dünnen da oben wieder runterkriegt. Man kann auch schiefe Ebenen

in unterschiedlich steiler Steigung durch Einhängen von Rutschbrettern in eine Sprossenwand herstellen. Die Clownschülerinnen und -schüler probieren mit Socken an den Füssen aus, welchen Steigungsgrad sie beim Hinaufgehen ohne abzurutschen schaffen. Jedes unfreiwillige Ausgleiten wird als Clowngag beklatscht.
Interessanterweise sind Lehrer und Clowns für die Kinder zwei ganz verschiedene Wesen, selbst wenn eine einzige Person beide Rollen darstellt. Ich habe mich gern vor den Kindern durch Schminken, Aufsetzen einer roten Nase und entsprechender Kostümierung sichtbar in einen Clown verwandelt. Und während die behinderten Jugendlichen mich noch kurz vorher als «Herr Kiphard» angesprochen hatten, war ich für sie jetzt jemand anderes, nämlich der August. Als August oder Augustine muss man so geschminkt sein, dass ein freundlicher, liebevoller Gesichtsausdruck entsteht. Zuviel Rot als Farbe des Blutes schreckt viele Kinder und behinderte Menschen ab. Das gleiche gilt für manche Art wilder Clownmasken, die eher abstossend und furchterregend wirken, wie sie z.B. in den USA häufig zu sehen sind.


Anschrift des Verfassers:
Univ.-Prof. em. Dr. phil.
Ernst Jonny Kiphard
Homburger Str. 62 c
D-61191 Rosbach