Mototherapie II

Psychomotorische Entwicklungförderung

Ernst J. Kiphard


Der Therapeut in der Clownrolle

Für Kinder mit neurotischen Ängsten, deren Selbstwertgefühl sich nicht entwickelt, die sich schwach und minderwertig fühlen, ist die Figur des Clowns, des dummen August ein Identifikationsobjekt. Das gleiche gilt für alle diejenigen, welche ganz unten an der Skala der Leistungsfähigkeit rangieren. Das gilt für Körperbehinderte und geistig Behinderte gleichermassen. Für sie alle ist der Abstand zum Erwachsenen unüberwindbar gross. Nicht so der zum Clown.

Gerade weil der Clown immer wieder Probleme mit seiner Umwelt hat (genau wie das behinderte Kind), fühlt sich ihm das Kind verbündet. Der Clown ist in Wahrheit nichts anderes als ein etwas zu gross geratenes Kind. Deswegen lachen die Erwachsenen über ihn; und die Kinder lieben ihn aus dem gleichen Grund. Das Handeln des Clowns wird vom Gefühl, und nicht vom Verstand diktiert. Er setzt der logischen, vernünftigen und sachlichen Erwachsenenwelt eine unbekümmerte Unlogik und Wundergläubigkeit entgegen. Er ist der harten Lebensrealität einfach nicht gewachsen. Zu viele Fallgruben lauern seinem kühnen Unternehmergeist auf, zu viele Widerstände bremsen seine Tatkraft. Überall stösst er auf Grenzen, auf eine harte und unnachgiebige Materie, die ihm, dem tapsig gutgläubigen dummen August als böswillig und bösartig erscheinen muss - genau wie dem behinderten, in seiner Aktionsfähigkeit beeinträchtigten Kind.

So werden Clown und Kind zu Verbündeten, ja das behinderte Kind hat sogar die Chance, einiges besser zu können als der dumme August. Im Bemühen, dem hilflos in der Tücke des Objekts verstrickten Clown aus der Patsche zu helfen, stellt sich ein Gefühl der Überlegenheit ein, welches sogar geistig behinderte Kinder über sich selbst hinauswachsen lässt. In diesem übermütigen Spiel können sie oftmals erleben, dass sie in mancherlei Hinsicht besser dran sind als der dumme August, der immer alles falsch anfängt. Dabei kommt es zu einer generellen Aktivierung ihrer Handlungs- und Kooperationsfähigkeit, und zwar auf gleicher sozialer Ebene mit dem Erwachsenen in der Clownrolle. Ja, es ist häufig sogar so, dass das Kind in die

Lehrerrolle schlüpft, dem Clown Mut zuspricht, ihn tröstet oder ihm zeigt, wie er eine Aufgabe besser und erfolgreicher lösen kann.

In der Rolle des Helfenden, Führenden und Lehrenden wird dem behinderten Kind eine ungeahnte Selbsterhöhung zuteil. Wo sonst hätte es Gelegenheit, all seine latenten Handlungsmöglichkeiten zu mobilisieren und dabei Lernprozesse zu durchlaufen, indem es seine eigenen Lernerfahrungen an den ihm hilfsbedürftig erscheinenden Clown weitergibt.

Wer als Pädagoge oder Therapeut bereit ist, in die Rolle dieses armseligen und unbeholfenen Clowns zu schlüpfen, der braucht dazu nicht unbedingt ein Clownkostüm und eine rote Nase. Clown wird man eigentlich schon dadurch, dass es einem gelingt, Kinder durch simple Fehlhandlungen, unlogische Fehlschlüsse und Verstrickungen in die Tücke des Objekts zum Lachen zu bekommen.

Wenn dieser närrisch-harmlose Tolpatsch in der erwachsenen Körpergestalt den Tisch, an dessen Ecke er sich gerade gestossen hat, wütend als «böse» scheltet und womöglich nach ihm tritt (um sich erneut dabei wehzutun), dann reagiert er in Art des Kindes seinen Ärger ab. Das Kind erkennt in dem schier aussichtslosen Kampf des Clowns seine eigenen Unzulänglichkeiten und Begrenzungen wieder. Insofern hält der Clown dem Kind - wie im übrigen auch dem Erwachsenen - einen Spiegel vor.

Die Kommunikationsmittel zwischen Clown und Kind sind direkt und bedürfen im allgemeinen keiner vielen Worte. Die Gesten und Gebürden des Clowns, seine mimischen und pantomimischen Mittel versteht das Kind auf Anhieb. Gerade im Umgang mit dem behinderten Kind zieht der Clown als Spielgefährte alle Register der Körpersprache. Seine Ausdrucksmittel lassen durch die dabei zur Schau gestellte Übertreibung nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Wenn ein Clown Erstaunen mimt, so reisst er nicht nur die Augen weit auf, sein ganzer Körper nimmt daran teil und verharrt vornübergebeugt. Sein Mund rundet sich zu einem grossen «oooch». Diesen Laut der Verwunderung stösst er wieder und wieder aus, während sich sein Körper jedesmal noch weiter nach vorn zu beugen scheint, mit riesenhaft staunenden Augen und regungslos offenem Mund. Ein Clown ist auch nicht einfach nur ängstlich; er zieht dabei die Schultern hoch und beginnt förmlich am ganzen Körper zu schlottern. Seine Hand geht automatisch zum Munde. Er beisst sich auf den Zeigefinger oder fängt an hilfesuchend am Daumen zu lutschen. Nützt das alles nichts, so hält er sich beide Augen zu und tut, als ob er gar nicht da wäre. Und wenn er am Ende nicht mehr weiter weiss, so schluchzt und weint und heult er herzerweichend.

Wer seine Gefühle so freimütig verkörpert wie der Clown, wer wie er mit dem ganzen Körper schluchzt oder sich hüpfend, springend und händeklatschend ganzkörperIich freuen kann, der kann sicher sein, auch vom behinderten Kinde verstanden zu werden. Seine Situationskomik, bei der übertriebene Gesten des Triumphes mit plötzlicher Niedergeschlagenheit und abgrundtiefem Weltschmerz wechseln, fordert das Kind geradezu auf, sich spontan in sein Spiel zu integrieren.

Nicht eigentlich der homo ludens, der spielende Mensch, sondern der homo ridens, der lachende Mensch unterscheidet uns vom Tier. Mag das Entwicklungspotential eines behinderten Kindes auch noch so gering sein: im befreienden Lachen macht es seiner bedrängten Seele Luft und knüpft den ersten zaghaften Herzenskontakt zu dem trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände nicht verhärtenden und nach jedem Misserfolg wieder lachenden Clown, dessen Lachen - um mit Henry MILLER zu sprechen - aus Tränen geboren wird.

Mir ist so manche Szene in Erinnerung, in der sich das bittere Weinen eines momentan verzweifelten Kindes spontan in Lachen umwandelte, wenn ich - der Clown - meinerseits unverhofft Nackenschläge bekam. In einem Fall versuchte ein 8jähriger Junge im Aggressionsraum vergeblich, den unregelmässig reagierenden Punchingball durch gezielte Faustschläge zu treffen. Traf er einmal wirklich, so führte der auf einer dicken Spiralfeder in Kopfhöhe angebrachte Boxball solch wilde und unberechenbare Hin- und Herbewegungen aus, dass er wohl zehn Mal oder mehr ins Leere traf, bis er schliesslich wütend zu weinen begann über sein Unvermögen. Ich ergriff sofort die Gelegenheit und gab dem «bösen» Boxball gleich einen so kräftigen Fausthieb, dass er unvermittelt mit gleicher Wucht zurückwippte und mich mitten ins Gesicht traf. Diese unerwartete Wendung amüsierte das eben noch verzweifelte Kind, und es begann, mich wieder und wieder aufzufordern, das gleiche Experiment zu wiederholen. Schliesslich packte der Junge den Punchingball, bog ihn, so weit er konnte, zu sich herab, versicherte sich, ob ich noch genau am richtigen Fleck stand, nahm Ziel auf mein Gesicht und liess dann mit sichtlichem Vergnügen den Ball los. Wir waren unversehens Clown-Partner geworden.


Clown-Spielszenen als Handlungsanreiz

Die folgenden Situationen sind geeignet, die Handlungsaktivitäten und das Kommunikationsverhalten auch geistig behinderter Kinder zu wecken und zu mobilisieren.

  • Der Clown will einen hohen Turm bauen. Dabei schichtet er die Holzklötze, Plastikbausteine oder Schaumstoffplatten so ungenau übereinander, dass sie zwangsläufig umfallen müssen. Die Kinder sehen den Fehler und helfen, die Bausteine genau übereinander zu schichten.
  • In einer ähnlichen Version stösst der Clown beim Aufheben neuer Bausteine vom Boden mit dem Hinterteil gegen den Turm, so dass er hinfällt. Sobald dies wiederholt vorkommt, verhindern die Kinder, dass der Clown beim Aufheben von neuem Baumaterial zu nahe am Turm steht.
  • Beim Turmbau mit backsteinförmigen Schaumstoffplatten kann der Turm, vor allem wenn er auf einem Tisch aufgebaut wird, eine Höhe von mehreren Metern erreichen. Dabei wird der Clown nach Möglichkeiten suchen, wie er, auf Erhöhungen stehend, den Turm noch höher bauen kann. Seine vergeblichen Versuche, Stühle aufeinanderzustapeln, werden von den Kindern mit Besorgnis beobachtet und zum Teil einfach durch Wegnehmen der Stühle vereitelt. Wenn sie keine bessere Möglichkeit gefunden haben, ein «Baugerüst» zu erstellen oder eine Leiter anzulegen, so machen sie dem Clown klar, dass der Turm nun hoch genug ist.
  • Es soll eine Brücke gebaut werden, wobei dem Clown ein Brett zur Verfügung steht. Statt es auf die Sitztflächen zweier Stühle zu legen, stapelt er die grossen Schaumstoffbausteine zu zwei etwa hüfthohen Türmen auf, um dann das Brett als Brücke darüberzulegen. Wenn dies Unterfangen nicht ohnehin von den Kindern schon gestoppt worden ist, so warnen sie ihn ganz sicher vor dem Besteigen dieser wackeligen und labilen Brücke. Hat sich der Clown dennoch nicht davon abhalten lassen und ist beim Daraufsteigen mit der ganzen Brücke zusammengebrochen, so bauen die Kinder die Brücke nunmehr neu, indem sie das Brett auf solidere Brückenpfeiler legen. Sie fordern den Clown dann auf, nun noch einmal darüber zu gehen, weil die Sache nun ganz sicher sei. Weigert er sich und traut sich aus Angst nicht darüber, so zeigen ihm die Kinder, wie ungefährlich das Beschreiten der Brücke ist.
  • Das Anstellen einer verhältnismäbig steilen Schrägfläche an einen Tisch oder ein Trampolin ist ebenfalls geeignet, behinderte Kinder zu aktivieren. Man kann dazu ein gelacktes, naturgebeiztes Schwungbrett, zum Lüneburger Stegel gehörig, benutzen. Zur Not tut es auch eine ausgehängte Tür oder eine ähnlich glatte Fläche. Der Clown versucht nun vergeblich, mit seinen glatten Schuhsohlen oder auf Socken diese Schrägfläche hinaufzugelangen. Wenn er dabei immer wieder herrunterrutschend hinfällt und vielleicht hilflos weinend am Boden liegenbleibt, so werden die behinderten Kinder ihn ganz gewiss trösten, ihm wieder auf die Beine helfen und ihm das Unmögliche seines Unterfangens klarmachen. Es ist dabei oft regelrecht so, dass die Kinder den Clown mit Gewalt vor weiteren erfolglosen Versuchen zurückhalten. Besteht er darauf, den Tisch oder das Trampolin zu ersteigen, so finden sie andere Wege, bauen z.B. Treppen mit Hilfe von Kisten und Stühlen und schieben und ziehen ihn, den Hilfsbedürftigen seinem Ziel entgegen.

Wenn der Clown sich mutwillig in Gefahr begibt, z.B. indem er versucht, einen Stuhl auf dem Kopf zu balancieren, so reagieren auch geistig behinderte Kinder äusserst besorgt. Wenn ihm dann die Sitzfläche auf den Kopf fällt oder der herunterfaliende Stuhl scheinbar den Fuss trifft, so nehmen sie ihm den gefährlichen Gegenstand kurzerhand weg. Will er trotz des eindeutigen Verbotes der Kinder einen zweiten Versuch wagen, so verweigern sie ihm den geforderten Stuhl, indem sie sich einfach daraufsetzen. Da Kinder, und insbesondere behinderte Kinder, zugern in die Rolle des Lehrers schlüpfen, sollte der Clown bewusst Fehlhandiungen begehen, die dann von den Kindern korrigiert werden. Der Clown kann zum Beispiel seine Kleidung falsch anziehen, die Jacke mit den Knöpfen nach hinten, die Strümpfe als Handschuhe, ja er kann versuchen, mit den Füssen in die Armlöcher eines Pullovers zu steigen und den gleichen mehr. Auch zwei verschiedene Schuhe werden den Kindern immer auffallen, eher jedenfalls als das Bemerken einer Verwechselung zwischen links und rechts. Weitere Möglichkeiten bestehen darin, dass der Clown die Knopfreihe seiner Jacke verkehrt zusammenknöpft oder das Hemd aus der Hose herausgucken lässt. Auch einfache Wortverdrehungen sind immer wieder ein hervorragendes Mittel um den Sinn für Humor bei Kindern anzusprechen und bei der Richtigstellung der falsch ausgesprochenen Worte zu helfen. Der Clown sagt zum Beispiel «Metterschling» oder «Schletterming» statt Schmetterling. Oder er malt mit Kreide eine Hinkelschnecke auf den Boden und behauptet, es sei eine «Schneckelhinke, oder «Schninkelhecke». Weitere Anregungen sind der Literatur zu entnehmen. So ist der Clown, um mit USINGER zu sprechen, ein «wahnwitziger Kämpfer gegen den Wahnwitz dieser Welt», ein «sanfter Matador des Unsinns» (Seite 19), über den sich das behinderte Kind vor Lachen ausschüttet. «Lachen kann aber auch zur Katharsis führen, zur Entladung des geballten Zorns über das eigene Leiden werden» (v. BARLOEWEN 1981).

Literatur:

Barloewen, C. v.: Clown. Zur Phänomenologie des Stolperns. Konigstein: Athenäum 1981
Budenz, T.: Sketche, Possen, Clownerien. München: Don Bosco 1966
Remy, T.: Clownnummern. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1982
Usinger, F.: Zur Metaphysik des Clowns. Offenbach: Kumm o. J.

Kinderzirkus als Motivation

Während es dem Therapeuten im Clowngewand darum ging, überhaupt erst einmal Selbstvertrauen und verantwortliches Handeln zu initiieren, geht es hier mehr um Leistungsmotivation über zirzensische Aktivitäten. Beim jungen Kind haben sie zumeist noch Spielcharakter. Beim älteren Kind und beim Jugendlichen können sie durchaus in ein hartes Training einmünden, wenn es z.B. darum geht, eine Stange vertikal auf dem Kopf zu balancieren oder frei über ein Seil zu gehen. Zirkus, Akrobatik, Jonglerie, Zauberei, Clownerie, all das übt auf Kinder zumeist eine grosse Faszination aus.

Davon zeugen die vielen Kinderzirkusse, die es in der Welt gibt und von denen einige Weltberühmtheit erlangt haben. Das Bemerkenswerte daran ist die Tatsache, dass viele der darin tätigen Kinder und Jugendiichen schwererziehbar, verwahrlost und verhaltensgestört waren, ehe sie in ihrem Zirkus anfingen. «lhr» Zirkus, das ist die gesamte Mannschaft der dazugehörigen Kinder und Erwachsenen, ersetzt dabei oft die fehlende familiäre Bindung und Beständigkeit. Hier lernen sie, dass es sich lohnt, ein selbtgewähltes Ziel ins Auge zu fassen und es mit Energie und Ausdauer zu verfolgen. Sie machen die für das Leben so wichtige Erfahrung, dass man etwas, das man anfangs nicht im entferntesten für erreichbar ansah, doch am Ende durch beharrliches Üben schaffen kann.

Ich erinnere mich u.a. eines 16jährigen Mädchens, das gerade zu unserer Zirkusgruppe stiess, als diese mit Balancierstangen auf einem Drahtseil übte. Sie sagte mir später, dass sie am liebsten gleich wieder abgereist wäre, aus Angst, ich könnte sie auffordern, über das Seil zu gehen. «lch hätte mich glatt blamiert vor all den anderen!» Ich liess ihr aber Zeit, zeigte ihr etwas leichtere, dann aber zunehmend schwierigere Balanceaufgaben mit Sportkreisel, Stelzen und Pedalos oder auf rollenden Fässern bzw. Kabeltrommeln, bis sie von selbst den Wunsch hatte, sich einmal auf dem Drahtseil zu versuchen. Sie hat später das Seillaufen selbst ohne Balancierstange ausgeführt.

Wir hatten alle paar Wochen eine gross angekündigte Zirkusvorstellung, auf welche eifrig hingearbeitet wurde. Nach einer gewissen Experimentierzeit, in der eine Reihe zirzensischer Aktivitäten ausprobiert werden konnten, fand irgendwann jeder etwas, woran er sich begeisterte und das fortan sein spezielles Übungsziel war. Der eine begann beispielsweise mit Bällen zu jonglieren oder sich mehrere Sandsäckchen nacheinander mit dem Fuss ins Genick oder auf seine Stirn zu befördern. Ein zweiter hatte sich z.B. für das Trampolin entschieden, und ein dritter übte sich im Handstand und Kopfstand, schlug Rad oder turnte am Trapez. Andere wieder taten sich zusammen, um gemeinsam Partnerakrobatik zu betreiben und «Pyramiden» zu bauen. Wir haben darüber auch einen 16 mm-Film gedreht unter dem Titei «Manege frei» (vgl. Literaturverzeichnis).

Am berühmtesten ist wohl der spanische Kinder- und Jugendzirkus «Los Muchachos» aus der «Kinderrepubiik Bemposta». Er wurde vor über 20 Jahren von dem Priester MENDEZ gegründet, nachdem er 1956 als 23jähriger bereits eine Knabenstadt à la «Father Flanagan's Boy's Town» errichtet hatte. Man muss hinzufügen, dass sein Onkel der grösste Zirkusunternehmer Spaniens ist. In der «Circo Ciudad de los Muchachos» (Zirkus-Stadt der Knaben) leben 600 ehemals verwahrloste und z.T. heimatlose Jungen, von denen etwa 50 aktiv beim Zirkus mitwirken. Ihre Leistungen sind kaum zu überbieten. Leider wird hier keine Co-Edukation betrieben, einmal sicher aus religiösen Gesichtspunkten, zum anderen wahrscheinlich, weil eine gleichgeschlechtliche Zirkusmannschaft naturgemäss problemloser zu leiten ist.

Anders ist das bei den übrigen europäischen sowie amerikanischen Kinder- und Jugendzirkussen. Führend in Europa ist fraglos Holland. Wir hatten schon 1963 Verbindung zu dem holiändischen Kinderzirkus «Elleboog» (ein Pendant zum Schweizer Zirkus Knie) aufgenommen und ihn nach Deutschland eingeladen. Gegründet wurde dieses Unternehmen in den Nachkriegsjahren durch eine beherzte Frau. Dieser Frau LAST-TER HAAR aus Amsterdam gelang es, milieugeschädigte und verwahrloste Kinder von der Strasse zu holen und mit ihnen in einem alten Schuppen in dem verrufenen Bahnhofsviertel «De Jordaan» ein Zirkusprogramm einzuüben. Sie hatte gesehen, mit welcher Lust an der Gefahr sich diese Kinder auf den belebtesten Strassen einen Sport daraus machten, zwischen den fahrenden Autos die Strasse zu überqueren, Laternen zu erklettern oder waghalsig auf den Brückengeländern der Grachten zu balancieren. Da kam ihr die Idee mit dem Zirkus.

Es dauerte nicht lange, da hatte der Elleboog-Kinderzirkus ein Programm zusammen, das sich sehen liess und mit dem die Kinder in den Sommerferien Auslandstourneen nach Belgien (1952), England (1958) und Deutschland (1963, 1964, 1966, 1967) unternahmen. Es folgten Fernseh-Aufzeichnungen. Das «Unternehmen», finanziell unterstützt durch den holländischen Familienvormundschaftsverein «Pro Juventute», wird inzwischen von Herrn PIJNACKER geleitet, einem ehemaligen Medizinstudenten, der sich sein Studium mit Puppentheater und Zauberei verdiente und so zum Zirkus Elleboog stiess. Über Zulauf an gefährdeten Kindern kann man sich nicht beklagen. Sowohl die Amsterdamer Jugendfürsorge als auch die Abteilung für Jugendpsychiatrie des holländischen Reichsgesundheitsamtes schicken geeignete (d.h. genügend talentierte) verhaltensgestörte Kinder an den Zirkus, was von ihnen keinesfalls als Strafe, sondern als Auszeichnung angesehen wird.

Eine andere berühmte holländische Einrichtung ist der Groninger «Kindercircus Santelli». Nach dem Vorbild des Zirkus Elleboog wirken hier auch nur Kinder bis zum Alter von 14 Jahren mit. Von einem Lehrer namens AKKER 1962 ins Leben gerufen, war dieser Kinderzirkus nicht weniger erfolgreich. Er gastierte auf Einladung von Jugendämtern u.a. seit 1964 mehrere Jahre hintereinander in Deutschland, ebenfalls mit Fernsehaufzeichnungen. Patronatsherrin ist keine geringere als Frau Christel SEMBACH-KRONE vom Zirkus Krone in München. Die kleinen Akrobaten, Jongleure, Seiltänzer, Trampolinspringer, Trapezkünstler und «Fakire» wählen selbst jedes Jahr acht Kinder aus, welche gemeinsam über alles, was im Zirkus geschieht, beraten. Sie sitzen auch «zu Gericht», wenn z.B. ein Kind unentschuldigt bei einer der täglichen Proben gefehlt hat und legen hier eine entsprechende Strafe fest.

Überhaupt stellt der Kinderzirkus ein ausgezeichnetes Erziehungsmittel dar. Sozialisation, Einordnung, Disziplin, aber auch Selbstentfaltung durch spielerisches Lernen, all das, worüber Fachleute theoretisieren, hier wird es zur Selbstverständlichkeit. Der erzieherische und therapeutische Wert, der im konsequenten und ausdauernden Verfolgen eines selbstgewählten Trainingsziels liegt, ist nach meinen Erfahrungen gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Schon im Jahre 1963 schrieb ich: «So ist dieses kindliche akrobatische Training mehr als eine Spielerei. Es ist eine kindgemässe Form der Erziehung zur Selbständigkeit, eine harte, frei gewählte Schule der Selbsterziehung. Die hier im Laufe der Jahre gemachten Erfahrungen und die Erfolge, gerade bei verwahrlosten Kindern von der Strasse, sollten aufhorchen lassen und zur Nachahmung anregen» (KIPHARD 1963, Seite 126).

In den Niederlanden gibt es sogar eine Föderation der holländischen Kinderzirkusse, die immerhin 17 Mitglieder aufzuweisen hat. In der Schweiz hat die «Pro Juventute»-Stiftung Pate gestanden für zwei ganz hervorragende Kinderzirkusse: «Kindercircus Robinson» und «Jugendcircus Basilisk». Viele milieugeschädigte Kinder fanden hier einen neuen Start. Statt sich nur von «Fertigfabrikaten» per Fernseher berieseln zu lassen, lernen sie hier ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu entdecken und zu nützen. Alles geschieht mit Begeisterung und Spielfreude. Ob als Springer, Stelzen- und Rollschuhläufer, als Hochradfahrer oder als Äquilibristen auf rollenden Kugeln (beim Robinson-Zirkus sind es fast nur Mädchen), hier beweisen Kinder und Jugendliche (die Altersgrenze ist 17 Jahre), mit welchem Eifer und mit welcher Ausdauer sie an sich zu arbeiten in der Lage sind.

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es einen Kinderzirkus, der sich Circus «Bärano» nennt und in Mannheim zuhause ist. Er wurde

1957 von UIrich TETTENBORN und Lotte WALTHER gegründet und hat jetzt ein ständiges Quartier in 6733 Hassloch in der Pfalz auf der Ponyfarm Bruchhof gefunden. Von daher gehören Ponydressuren und Voltige-Reiten zu den Höhepunkten des Programms. Jedes Jahr im März wird die Zirkussaison im Mannheimer Jugendheim «Erlenhof» unter Anwesenheit von Rundfunk, Presse und Jugendbehörden eröffnet.

Anfang 1979 entstand auf dem Gelände des Abenteuerspielplatzes innerhalb des Soziaien Zentrums «Lino-Club e.V.» am Kronbachweg in Köln-Lindenweiter ein neuer Kinderzirkus, der sich «Lino-Luckynelly» (abgeleitet von Lino-Club und der Jugendeinrichtung «Lucky Haus») nennt. Auf diesem Abenteuer-Spielplatz wurden schon seit 1975 Zirkusspiele durchgeführt, wobei ein Pony und zwei Esel eine wichtige Rolle spielen. In den darauffolgenden Jahren gab der holländische Kinderzirkus «Santelli» wiederholt Vorstellungen im Lino-Club. Die hierdurch ausgelöste Begeisterung führte zur Gründung einer gezielten Gruppenaktivität «Zirkus», die zunächst von einem Praktikanten regelmässig betreut wurde. Auch entstanden vertiefte Kontakte zum Kinderzirkus Robinson in Zürich.

Mit Hilfe des Trägervereins des Lino-Club, der Jugendeinrichtung Lucky Haus sowie Zuschüssen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Köln wurde im Hinblick auf die im Juni 1979 in Köln stattfindende Premiere ein kleines gebrauchtes Zirkuszelt von 20 Meter Durchmesser angeschafft, das immerhin 400 Zuschauer fasst. Dazu kamen Bodenplanen, Matten und vor allem Zuschauerbänke. Später wurden Requisiten- und Artistenwagen und schliesslich ein alter Traktor gekauft. Die Geldmittel dafür stammen u.a aus einem vom Arbeits- und Sozialminister ausgesetzten Hauptpreis im Wettbewerb «Vorbildliches zum Jahr des Kindes», welcher 1979 vom Kinderzirkus «Lino-Luckynelly» gewonnen wurde. Somit unabhängig vom Wetter, konnten erste Tourneen in das Ruhrgebiet unternommen werden. Beteiligt an den Aufführungen sind etwa 30 bis 40 aktiv mitwirkende Jungen und Mädchen zwischen 6 und 18 Jahren sowie mehr als zehn Erwachsene, insbesondere Sozialarbeiter, Erzieher, Zivildienstleistende, ein rühriger Hausmeister und seine Frau sowie einige Eltern. Im Zirkus «Lino-Luckynelly» wird grösster Wert auf Mitplanung und aktive Mitgestaltung seitens der Kinder und Jugendlichen gelegt. Dazu gehört einerseits die Freiheit, in einer Art Erprobungsphase zunächst phantasievoll spielen und experimentieren zu dürfen. Andererseits werden aber von den Team-Mitgliedern des Kinder Zirkus kritische Reflexion, kreative Anpassung sowie ein hohes Mass an Verhaltenssteuerung gefordert. Hier werden Aggressionsgelüste in positive Verhaltensweisen überführt, indem die Kinder etwas Konstruktives «in Angriff nehmen» und dabei tatkräftig zupacken (1).

Der Leistungsstand der verschiedenen Darbietungen in Akrobatik, Äquilibristik, Kunstradfahren und Jonglerie konnte auf diese Weise im Laufe der Zeit enorm erhöht werden. Manche dieser kleinen Hobby-Artisten trainieren bis zu drei Stunden täglich. Seit 1981 sind auch einige Schüler der Bonner Zirkusschule Corelli (pädagogischer Leiter: Hanspeter KURZHALS) mit im Programm.

Die Entscheidung des einzelnen für die Mitarbeit im Zirkus besitzt höchste Verbindlichkeit und wird - wie der verantwortliche Sozialarbeiter Manfred WILDE berichtet - zunächst nur für eine Sommersaison durch Handschlag besiegelt. Auf diese Weise lernen die Kinder und Jugendlichen, mit Geduld und Ausdauer langfristige Aufgaben eigenverantwortlich zu übernehmen und im täglichen Miteinander unbedingte Einsatzbereitschaft sowie Hilfsbereitschaft und Kameradschaft zu zeigen. Immerhin absolvierte der Zirkus «Lino-Luckynelly» im Sommer 1982 26 Vorstellungen mit allem technischen Drum und Dran, mit Auf- und Abbau, was nicht mindere Präzision erfordert.

Im Rahmen der Münchener Pädapogischen Aktion e.V. reist ein anderer Zirkus, «Zirkus Pumpernudl» seit 1978 durch die Stadt, um an den verschiedensten Orten seine täglichen Nachmittagsvorstellungen zu geben. Mit Hilfe eines LKWs und eines Baugerüstes werden Planen im Rund gespannt und durch Kulissenplatten ergänzt. Von einem Vorhang aus betreten die Akteure als Parterre- oder Trapezakrobaten, als Clowns oder Stierkämpfer die Manege. Das Einstudieren der Darbietungen obliegt den Mitarbeitern der «Pädaktion».

Dass Zirkusspiele auch für Schulkinder höchst motivierend sind, konnte KRETSCHMER (1982) durch seinen «Zirkus Appelloni» deutlich machen - ein fächerübergreifendes Projekt der Unterrichtsfächer Deutsch, Kunst, Technik und Sportunterricht. Hierbei wird die Turnhalie zur Manege umfunktioniert, in welcher sich Grundschulkinder nach längerer Experimentier- und Planungszeit in der Luft und am Boden in selbsterdachten und selbstgestalteten Zirkuskünsten einem begeisterten Kinderpublikum präsentieren.

Es gibt aber sicherlich in Deutschland eine ganze Reihe weiterer nachahmenswerter Beispiele, wie man akrobatische oder zirzensische Aktivitaten als Erziehungsmittel in Heimen und Schulen einsetzen kann. So die von E. KNAB schon vor Jahren am St. Josefstift in Klein-Zimmern in der Nähe Frankfurts ins Leben gerufene Akrobatik-Truppe. Sie besteht aus verhaltensgestörten Sonderschülern dieses Heimes, die, zum Teil gemeinsam mit ihrem ebenfalls zirkusbegeisterten Heimleiter und ihrem akrobatisch versierten Sportpädagogen W. RUSCH, ausgezeichnete Leistungen am Absprungtrampolin, am Schleuderbrett oder als Pyramidenbauer vollbringen.

ALDIN (1982) berichtete kürzlich über einen australischen Kinderzirkus, der sich als «Fliegender Obstfliegen-Circus» bezeichnet. Als Trainer fungieren ehemalige Zirkusartisten, so dass dieser Kinderzirkus heute zu einem der besten der Welt zählt. Die Jungen und Mädchen zwischen sieben und siebzehn Jahren gehen während ihrer Schulferien regelmässig auf Tournee, und zwar mit einem eigenen Chapiteau (Zelt), das 700 Zuschauer fasst. In diesem Jahr (1982) gastieren sie in Sidney. 1981 waren sie die grosse Attraktion auf dem Internationalen Kinder-Festival in Vancouver, Kanada.

In den USA, einem sehr zirkusbegeisterten Land, bietet man die «Circus Arts» nicht nur für Schüler und Studenten an (z.B. Miami University), sondern ebenfalls für emotional verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche (z.B. State University of New York) und sogar - wie ich mich vielerorts selbst überzeugen konnte - bei geistig Behinderten. Einzelne unter ihnen beherrschen nicht nur Einradfahren, sondern vollführen Salti am laufenden Band auf dem Trampolin. Für sie ist der Jugendzirkus eine Art von Erlebnistherapie. Hier erlangen sie erstmals Achtung und Anerkennung durch andere.

Im Jahre 1981 besuchte ich den in den USA wohl berühmtesten Kinder- und Jugendzirkus, den in Sarasota (Florida) beheimateten Sailor Circus, «the greatest little show on earth», wie er sich offiziell nennt. Er geht zurück auf einen akrobatisch versierten Sportlehrer der Sarasota High School (höhere Schule), der 1949 mit seinen Flickflack (Handstandüberschlag rückwärts) springenden und auf Händen laufen den Schülerinnen und Schülern bei einer Vorführung anlässlich eines Schulfestes unerwarteten Erfolg hatte. Damals wurde die Idee zu einem schuleigenen Jugendzirkus geboren. 1958 konnte sogar ein eigenes Chapiteau (Zirkuszelt) angeschafft werden, und der Ringling Bros. Circus stellte unentgeltlich Trainer zur Verfügung. 1964 wurde der Sailor Circus, wie er sich fortan nannte, erstmalig für eine auch in der BRD ausgestrahlte Fernsehsendung gefilmt.

Wenn man dem Trainingsgeschehen in der Mittags-Schulpause unter dem Zeltdach, das sich gleich unmittelbar neben dem Schulgebäude befindet, zuschaut und den Eifer und die Begeisterung spürt, mit der die Jungen und Mädchen an ihrer speziellen Darbietung üben, dann ist es einem nicht bange um die Zukunft dieser idealistischen jungen Menschen. Zwar sind es die wenigsten, die wirklich später professionelle Zirkusartisten werden. Doch was sie auch anfangen mögen, sie haben eines gelernt: für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen und mit hundertprozentigem Einsatz das zu verwirklichen, was sie sich vorgenommen haben.


Literatur

Aldin, E.: Kinderzirkus in Australien: Fliegender Obstfliegen-Circus. Die Circuszeitung (Berlin) 8, 1982, 6-7
Gerisch, S. und andere: Sportakrobatik. Eine Anleitung für Übungsleiter. Berlin (Ost): Sportverlag 1966
Kiphard, E. J.: Die Akrobatik im Zirkus. In Bemmann (Red.): Die Artisten - ihre Arbeit und ihre Kunst. Berlin (Ost): Henschel 1970
derselbe: Die Akrobatik und ihr Training. Essen: Ruhrl. Verl. 1961
derselbe: Die Akrobatik in ihrer Beziehung zum modernen Sport. Die Lebenserziehung 4, 1963, 125-127
derselbe: Übungsanregungen zur Verbesserung der Körperbalance. Turnen und Sport (TuS) 194-196 und 217-221, 1979

(1) vgl. Grohs, G.: Der Kinder- und Jugendzirkus «Lino-Luckynelli», Schwalbacher Blätter (Wiesbaden), 1979, 29-36

aus:
Psychomotorische Entwicklungförderung -Band 3
Mototherapie II
VML verlag modernes lernen - Dortmund
Anschrift des Verfassers:
Univ.-Prof. em. Dr. phil.
Ernst Jonny Kiphard
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