Ersehen Sie bitte mein gesamtes Angebot auf meiner eigenen Website:


Ein Interview mit Michael Titze

Das MAGAZIN Demenz, 9/2011, S. 36-37


 Ein Gespräch mit dem 1. Vorsitzenden von HumorCare Deutschland

Demenz: Herr Dr. Titze, Was weiß die Wissenschaft heute über Humor?

Dr. Titze: Vor allem, dass es sich hier um ein ganzheitliches Konzept handelt. In der Gehirnforschung spricht man von einem Humornetzwerk, das im Menschen wirkt.

Demenz: Das bedeutet?

Dr. Titze: Wenn Menschen auf Humor reagieren, sind ganz verschiedene Hirnregionen an dem Geschehen beteiligt. Neuere Befunde der Hirnforschung erbrachten Hinweise, dass dem Lachen ein komplexes neuronales Netzwerk zu Grunde liegt, das motorische, emotionale und kognitive Komponenten umfasst. Da ist zum einen die kognitive Komponente, die Areale des vorderen Stirnhirns umfasst und die rationalen Voraussetzungen für das Verstehen witziger Pointen bereitstellt. Im limbischen System und anderen subkortikalen Bereichen ist die emotionale Komponente verortet, die für den Humor eine ganz große Rolle spielt. Dazu kommt noch die motorische Komponente, die z.B. die mimischen Äußerungen beim Lachen bestimmt. Sie ist im motorischen Kortex angesiedelt und besitzt (ebenso wie die emotionale Komponente) eine direkte Verbindung zum Hirnstamm, einem stammesgeschichtlich alten Gehirnareal. Diese verschiedenen Komponenten müssen nun alle miteinander in Verbindung stehen, damit es zu einer persönlichkeitsspezifischen Humorreaktion kommen kann.

Demenz: Was bedeutet das für Menschen mit Demenz?

Dr. Titze: Bei einer Demenz ist ja eher die kognitive Seite lädiert, während der emotionale und auch der motorischen Bereich oft gar nicht tangiert sind. Das heißt: Die betroffenen Menschen können genauso lachen wie andere, und sie können genauso traurig oder auch wütend sein. Sigmund Freud hat betont, dass das Lustbetonte das Primäre und das Kognitive nur das Sekundäre im psychischen Leben ist. Wenn es also, wie auch im Falle der Demenz, zu einer Regression auf primäre Prozesse kommt, muss man folgerichtig über die emotionale und motorische Ebene in das Humornetzwerk einsteigen. Aber: Weil wir es eben mit einem neuronalen Netzwerk zu tun haben, wird der kognitive Bereich auch bei schweren hirnorganischen Erkrankungen bereichsweise immer auch mitaktiviert. Denn auch an Demenz erkrankte Patienten besitzen ein gewisses kognitives Potenzial! Und im Prozess der Erheiterung kann dieses erreicht und aktiviert werden.

Demenz: Es ist aber auch ein Wert an sich, emotional oder lustbetont zu sein, oder muss die Kognition da immer mitspielen?

Dr. Titze: Diese drei Bereiche sind völlig gleichwertig. Das hat bereits auch Dr. Madan Kataria, der Erfinder des Lachyogas, festgestellt: Es ist ganz egal, über welche Bereiche des Humornetzwerks man einen Menschen erheitert. Am einfachsten ist der Einstieg über die motorische Komponente, wenn man z.B. gekitzelt wird oder wenn man die lautlichen und mimischen Äußerungen des Lachens bewusst hervorruft. Als rational orientierte Erwachsene versuchen wir das Lachen allerdings vor allem über Witze und Komik zu stimulieren, bei denen eine Inkongruenz erfahrbar wird.

Demenz: Erklären Sie, was Inkongruenz ist.

Dr. Titze: Inkongruenz bedeutet, dass etwas Verblüffendes geschieht, dass zwei Dinge zusammenkommen, die nicht zusammenpassen. So entsteht ein kognitives »Kipp-Phänomen«, das Heiterkeit hervorruft. Ein Beispiel von Woody Allen: »Was wäre, wenn alles nur eine Illusion wäre und ich nicht existierte? In diesem Fall hätte ich für meinen Teppich definitiv zu viel gezahlt!«.

Demenz: Um das zu verstehen, brauche ich was? Doch keine Logik, oder? Ist das logisch?

Dr. Titze: Ich muss in jedem Fall in der Lage sein, kognitive Entscheidungen zu treffen, d.h. verschiedene Abstraktionsebenen miteinander zu verbinden. Gleichzeitig muss ich schauen, ob dies logisch zusammen passt. Ein Teppich und die Frage, ob meine Existenz nur eine Illusion ist, haben ja eigentlich gar nichts miteinander zu tun. Und eben dadurch entsteht eine Inkongruenz, die den erheiternden Haha-Effekt nach sich zieht. Ein anderes Beispiel: Warum haben Fische Schuppen? – Wo sollten sie denn sonst ihre Fahrräder unterstellen?

Demenz: Was sagt uns dieser Witz?

Dr. Titze: Das Wort Schuppen hat verschiedene Bedeutungen. Um diese Bedeutungen differenzieren und richtig einordnen zu können, braucht es einen Wissensvorrat, auf den ich jederzeit zurückgreifen kann. Habe ich den nicht, werde ich mit diesem Witz nichts anfangen können. Und bei einer Demenz fehlt dieser Wissensvorrat mehr oder weniger.
Aber noch einmal: Beim Humor ist es nicht unbedingt notwendig, über den kognitiven Bereich einzusteigen. Man kann das auch über die motorische Komponente tun. Genau das ist beim Lachyoga der Fall: Hier wird Lachen erst einmal künstlich erzeugt, dann springt sozusagen der Motor an, und aus künstlichem wird ein echtes Lachen, das über kurz oder lang den ganzen Körper einbezieht. Konkretes Tun, Bewegungsspiele, interaktive Scherzartikel – all das können Zugänge sein, die über motorische Komponente unmittelbar Heiterkeit hervorrufen. Dies ist gerade auch bei Menschen, deren kognitives Potenzial limitiert ist, weitgehend möglich.

Demenz: Nun kann man sich ja auch Situationen vorstellen, in denen gerade diese Menschen unfreiwillig für Heiterkeit bei anderen sorgen und auch Spott oder andere negativen Reaktionen erfahren.

Dr. Titze: Ja, ein Mensch mit Demenz wird oft unfreiwillig zum Komiker, wenn er sich beispielsweise eine Unterhose über den Kopf zieht oder dergleichen. Das wirkt befremdlich, kann aber immer auch als Komik erlebt werden. Wenn so etwas in einer Gruppe nicht nur zugelassen, sondern im Spiel richtig gefördert wird, dann kann sich häufig eine unreflektierte Kompetenzlust entfalten, über welche dann auf der emotionalen Ebene eine authentische Heiterkeit aktiviert wird.

Demenz: Eine klassische Frage: Ist Humor erlernbar?

Dr. Titze: Eindeutig ja. Nehmen Sie beispielsweise die Forschungsergebnisse von Professor Willibald Ruch aus Zürich. Er hat gezeigt, dass sich Humor über verschiedene Wege lernen lässt, über spezielle Fragetechniken, durch Übertreibungen, eben über ein spezifisches Humortraining. Das ist reine Übungssache. Man muss vor allem lernen, aus dem Mainstream auszubrechen und sich auf noch unbekannte Kanäle der Verblüffung einzulassen. Man muss also gezielt nach neuartigen Quellen der Erheiterung Ausschau halten. Und das lässt sich üben.

Demenz: Damit Humor in der Demenz leben kann, braucht es ja auch den anderen, den Pflegenden, den Begleiter.

Dr. Titze: Wenn der Pflegende nur befremdet reagiert, weil er selbst zu stark im Mainstream verhaftet ist, dann wird dieses Befremden körpersprachlich kommuniziert und der Patient bekommt das unterschwellig mitgeteilt. In diesem Fall werden bei ihm Hirnareale aktiviert, die auf aversive Gefühle ausgerichtet sind. Das, was Befremden bei dem Pflegenden hervorrief, wird somit auch beim Patienten selbst aktiviert. Das hat etwas mit der Wirkweise der Spiegelneuronen zu tun. Wenn der Pflegende aber einen authentischen Zugang zur Welt der Heiterkeit besitzt, wenn er über einen Sinn für Komik und Humor verfügt und wenn er – nicht zuletzt – auch den unfreiwilligen Humor schätzt, dann ist das natürlich eine riesige Chance, die immer auch therapeutische Bedeutung besitzt. Und das ist im Grunde das, was uns auch der Dadaismus vermittelt.

Demenz: Inwiefern?

Dr. Titze: Der therapeutische Humor wurde tatsächlich vom Dadaismus mit beeinflusst. Richard Hülsenbeck, einer der Urväter des Dada, wurde später übrigens Psychoanalytiker und war Lehrer von Albert Ellis, einem großen Vertreter therapeutischen Humors.
Beim Dada finden Sie Verrücktheiten, die kann man in jeder psychiatrischen Klinik oder auch auf einer geriatrischen Station haufenweise täglich erleben. Ein Dada-Witz als Beispiel: Auf einer psychiatrischen Station spielen zwei Patienten »Mensch ärgere dich nicht!« Plötzlich schreit der eine begeistert: »Schachmatt!« Worauf der andere kontert: »Du Blödmann, seit wann gibt es beim Halma denn Elfmeter?« Diese Verrücken der Regeln ist uns Angehörigen einer durchrationalisierten Zivilisation vielleicht suspekt, vielleicht bereitet es uns Kopfschmerzen: faszinierend finden es viele allemal. Und gerade diese »Verrücktheit« wird im therapeutischen Humor gezielt genutzt.
Ich kenne genügend Menschen, die mit diesem »Verrücken der rationalen Regeln« arbeiten – und die diese Arbeit als Quelle einer kreativen Bereicherung erleben, die Heiterkeit, Zufriedenheit und letztendlich auch Weisheit vermittelt. In letzter Konsequenz gehören aber auch immer diejenigen, die als Patienten diese Verrücktheit ausleben, zu dieser Quelle.
Denn diese Menschen vermitteln mir (als Pflegendem oder Therapierendem) einen direkten Zugang in mein eigenes Humornetzwerk. Und wenn ich ihnen genau das spiegle, kann eine »Gemeinschaft im Komischen« entstehen – gleichgültig, ob die Komik bei diesen Patienten freiwillig oder unfreiwillig entstanden ist. Denn das Ergebnis ist eine Erheiterung, die ansteckend ist, so dass sich in der pflegerischen oder therapeutischen Interaktion eine gemeinsame Heiterkeit ergibt, die gar nicht danach fragt, ob das nun berechtigt ist oder nicht und die letztendlich wieder aus den Quellen kindlicher Lebenslust schöpft.

Demenz: Was kann man denn Angehörigen von Menschen mit Demenz anbieten, die ja oft sehr belastet sind?

Dr. Titze: Viktor Frankl, der Urvater des therapeutischen Humors, sprach immer von einer Umstellung der Einstellung. Wenn ich es schaffe, das emotionale »innere Kind« – das ja letztendlich viel weniger lädiert ist als der rationale Erwachsene – in dem anderen zu sehen und wenn ich es schaffe, dieses Kind zu akzeptieren, dann können gerade auch Angehörige ihre Einstellung in positiver Weise ändern.

Demenz: Nur das innere Kind des demenziell veränderten Menschen? Oder das in uns allen?

Dr. Titze: Ganz genau! Und damit wären wir wieder beim Dada. Der entstand nach dem Ersten Weltkrieg, weil man sich sagte: Erst durch seine grenzenlose rationale Logik ist der Mensch in das Grauen dieser entsetzlichen Katastrophe hineingeraten.
Deshalb müssen wir uns von der Allgewalt des rationalen Erwachsenendenken lösen und wieder zurück zu den Anfängen eines Denkens gelangen, wie es für kleine Kinder typisch ist. Losgelöst von dem Zwängen der Logik sollten wir auch dem Demenzkranken begegnen. So gesehen ist Dada eine Dekonstruktion jener Logik, die Vernichtungskriege ermöglicht, oder »ethnische Säuberungen« plant. Man könnte sogar sagen: Die Dementen sind dort angekommen, wo Dada-Künstler intentional und mühsam erst hinfinden mussten. Der Zugangsweg ist verschieden, aber das Ergebnis ist das Gleiche. Und Dada ist heute genau so aktuell wie zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

Demenz: Wenn Sie von Dada oder von therapeutischem Humor sprechen: Wer sind die Zielgruppen?

Dr. Titze: Hyperrationale Menschen, Menschen mit Angst vor Lächerlichkeit und mit dem »faustischen Drang zur Unauffälligkeit«, wie Viktor Frankl sagt. Ziel ist es, den Zwang zur Unauffälligkeit aufzugeben und einen komischen Willen zur Auffälligkeit zu entwickeln. Das ist nicht nur ein pflegerisches Konzept, sondern eine therapeutische Philosophie!