Michael Titze, Humorexperte und Pionier der Förderung und Anwendung von Humor in der Psychotherapie, hat gemeinsam mit dem Philosophen Rolf Kühn, der sich an Edmund Husserls Phänomenologie orientiert, eine an Aspekten reiche Beschreibung und Erklärung der Gelotophobie, der Angst, ausgelacht und beschämt zu werden, vorgelegt.
Im Ersten Abschnitt behandelt Titze den psychologischen Befund bezüglich Lebensfreude, Lachen und Scham. Ausgehend von der Darstellung primärer und sekundärer Gefühle beschreibt er anschaulich die Entstehung und das Wesen der »Urscham«, die sozialen Prozesse der Beschämung und die dadurch ausgelöste Entstehung und das Wesen der Gelotophobie.
Scham und Schuldgefühle sind sekundäre Gefühle, die im Prozess der Sozialisation mit dem primären Gefühl der Angst verbunden werden. Primäre Gefühle wie Furcht, Angst, Wut und Freude werden oft mit sekundären Emotionen wie Scham, Stolz oder Verlegenheit verschmolzen. Primäre Emotionen sind biologisch angelegt und rein affektiv. Durch die sozialen Anpassungsprozesse werden sie mit Bewertungen und Gedanken verbunden.
Nach Titze »offenbart sich im Lachen die affektive Lebendigkeit in seiner ursprünglichsten Weise« (S. 31), auch wenn es sekundär vielfältige Ursachen und Wirkungen haben kann. Er beleuchtet dann die widerspruchsreichen Ausdrucksformen von Lächeln und Lachen: Lachen als Ausdruck von Lebenslust und Heiterkeit, Lachen über Komisches bis hin zum Aus- und Verlachen als aggressive Anpassungsstrategie.
Anschaulich und im Diskurs mit wichtigen Experten aus Wissenschaft und Literatur beschreibt Titze die Entstehung und das Wesen der »Urscham«. Nach Leon Wurmser ist Scham eine »spezifische Form der Angst, die durch die drohende Gefahr der Bloßstellung, Demütigung und Zurückweisung hervorgerufen wird.« (S. 47) Titze beschreibt Scham als »das internalisierte skeptische Auge, das ursprünglich auf den 'bösen Blick' und die Nichtbeachtung der elterlichen Bezugspersonen zurückgeht.« (S. 48)
»Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Das Glück lässt sie 'leuchten', die Trauer 'ermatten', und die Freude 'glänzen'. Im Zorn 'blitzen' sie auf, während ihr Licht im Tode 'erlischt'.« (S. 48) Das Selbstwertgefühl entfaltet sich durch den »Glanz im Auge der Mutter« (Kohut), durch das nonverbale wechselseitige »Anstrahlen« von Baby und Mutter. Das Wort »Ansehen« birgt viele Facetten in sich: jemand hat gutes Ansehen oder er wird verächtlich angesehen. Die frühe nonverbale Interaktion prägt das Selbstwertgefühl, das sich positiv in der Grundeinstellung »Ich bin liebenswürdig« äußert, negativ aber in einer beschämenden Maxime »Ich bin nicht in Ordnung!«
Scham dämpft oder zerstört als »archaischer Affekt« die Lebensfreude und die natürliche Unbefangenheit. Denn der Beschämte macht sich selbst zum Objekt dauernder Selbstkontrolle und Verachtung. Auch der Leib wird dadurch zum »Fremd-Körper« gemacht, dessen man sich schämt, auf den man sich nicht unbefangen verlassen kann. Darwin bezeichnet solche Scham als »geistige Verwirrung«.
Die Ursachen für derartige Beschämung liegen in starren Familienstrukturen, die durch lebensfremde Ideale ein »Dressurgewissen« erzeugen und das Not-wendige Spiel mit den sozialen Spielregeln verhindern. Dadurch geht die Flexibilität im Umgang mit sozialen Rollenerwartungen verloren. Das Spiel des Lebens wird von tödlichem Ernst überschattet.
Beschämung führt zur Entfremdung in der Gemeinschaft. Titze geht in diesem Kapitel den Auswirkungen der Beschämung nach. Starke Beschämung führt zur Entfremdung von sich selbst und von der Gemeinschaft. Solche Menschen werden ständig von Selbstzweifel und von den »prüfenden Blicken« anderer begleitet und verfolgt. In der Adoleszenz ist die Anerkennung in der Altersgruppe für die Identitätsfindung besonders wichtig. Studien haben nachgewiesen, dass Amokläufer in den Schulen fast immer beschämte, gehänselte Aussenseiter waren, die schließlich von mörderischen Aggressionen überschwemmt wurden. (S. 74f.)
Schamgebundene Menschen fühlen sich also im eigenen Leib ebenso fremd und unsicher wie in der Gemeinschaft. Das Grundvertrauen in sich selbst und in die Umwelt ist erschüttert. Sartre beschreibt das lapidar: »Ich schäme mich meiner, wie ich dem Anderen erscheine.« (S. 65) Unsicherheit, große Kränkbarkeit und Dauerkontrolle bilden einen leidvollen Teufelskreis von Beschämung, Entwertung und Isolation. Lebensfreude, Spontaneität und unbekümmerte Lebendigkeit werden dadurch erstickt.
Titze beschreibt dann im vierten Kapitel das leidvolle Phänomen der Gelotophobie, der Scham-Angst, ausgelacht zu werden. Derart geschädigte Menschen haben mit dem Lachen fast nur negative Erfahrungen gemacht. Lachen ist mit der Bedrohung des Selbstwertgefühls verbunden, nicht aber mit Freude, Heiterkeit und sozialer Zusammengehörigkeit. Diese Störung führt zur Vermeidung von Sozialkontakten, zu Isolation, massiver Schüchternheit und zu leidvollen psychosomatischen Symptomen wie Schwitzen, Erröten und Herzrasen. Das Gefühl, lächerlich zu sein und komisch zu wirken wird dann von körperlichen Verspannungen, von erstarrter Mimik, von unbeholfener Gestik und von hölzernen Bewegungen begleitet (Pinocchio-Syndrom).
Gelotophobiker durften »nie wirklich Kinder in einem affektiv spontanen Sinn sein. Sie mussten sich so verhalten, als wären sie kleine Erwachsene, die das Wohlergehen anderer Menschen als ihre wichtigste Aufgabe ansehen.« (S. 73) Titze listet dann anschaulich und mit typischen Aussagen von Betroffenen die Facetten der Gelotophobie auf (S. 75-77)
Nach der Darstellung eines Fragebogens zur Erfassung von Gelotophobie und von Testergebnissen, die zwei Hauptfaktoren dieser Störung erfassen, nämlich »Unsicherheit und Vermeidungsverhalten«, fasst Titze die Ursachen und Folgen dieser Störung in einem Schema zusammen. (S. 81)
Im zweiten Abschnitt des Buches behandelt der Philosoph Rolf Kühn die »Phänomenologische Fundierung« von Lachen, Freude, Scham und Komik. Abschließend werden dann praktisch-therapeutische Konsequenzen aus diesen psychologischen und philosophischen Erkenntnissen formuliert.
Zuerst wird Henry Bergsons »vor-phänomenologische Analyse des Lachens« reflektiert und kritisch dargestellt. Bergson behandelt das Lachen als philosophisches und gesellschaftliches Problem und nicht als »reine Lebensaffektation«. (S. 90) Denn »die Flamme des Lebens selbst« lacht noch vor aller sozial mitbestimmten Komik. Auch Bergson spricht von der »frischen und neuen Freude«, die kleine Kinder bei ihren Spielen empfinden. Diese Freude besteht in der »selbstaffektiven Gebung des Lebens«, noch vor aller Objektivierung. Deshalb spricht Husserl vom »Ur-Kind«, in dem sich vor jeglicher Erkenntnis die »Selbstfreude seiner Lebensunmittelbarkeit« äußert. (S. 94) Nach Bergson sind Automatismen, die Verwandlung von Lebendigem in Mechanisches, Eitelkeiten und Niedertracht die häufigsten sozialen Lachanlässe.
Weiter beschreibt Kühn das »lebensphänomenologische Wesen von Freude als Können«. Während sich Bergson im vorphänomenologischen Raum des Hinschauens auf das Leben bewegt, versucht Husserl zur Betrachtung des »Ur-Kindes« und seiner Lebensunmittelbarkeit vorzudringen. Denn beim Säugling ist das Lachen reiner Affekt, Ausdruck der Freude am Leben, schlicht »Selbstaffektion«. Der Säugling »ist sein Lächeln in der Identität von Leib und Leben ('Ich') als freudiges Sich-selbst-Empfinden«. (S. 107)
Dieses Ergriffensein vom Leben geht dann jedem Begreifen durch philosophische oder psychologische Theorien voraus. Denn der Leib ist das Prinzip jeglichen Könnens und Tuns. Jedes »Ich will« setzt ein »Ich kann« voraus. Kultur ist vor allem »Sinnesverfeinerung« auf der Grundlage leiblichen Empfindens. Und befreiendes Lachen wendet sich gegen alle möglichen gesellschaftlichen Einschränkungen der Lebenslust und Lebensfreude. (119)
Es folgt die Reflexion der phänomenologischen Schamanalyse nach Paul Hartenberg. Dieser Psychiater hat vor etwa hundert Jahren die Angst- und Scham-Symptomatik als Scheue und Schüchternheit beschrieben - heute spricht man von Sozialphobie. Er nennt sie »erkrankte Gesellschaftlichkeit«. Betroffene Personen haben überwertige Angst »von den Anderen besonders aufmerksam beurteilt und eventuell verachtet oder lächerlich gemacht zu werden.« (S. 125)
Hartenberg erklärt dies durch affektive »Übererregbarkeit« und umschreibt derartige Zustände als »inneres Gewitter« und als »Komplex von Störungen«. Diese tiefe Verunsicherung beruht auf dem Verlust der »natürlichen Selbstverständlichkeit« (Blankenburg). Sie ist Ausdruck eines »Minderwertigkeitskomplexes« (Alfred Adler). Es kommt dabei zu einem Teufelskreis von Emotionen und Vorstellungen, begleitet von einer »Schwachheit des Wollens«. Als Prophylaxe und Therapie empfiehlt Hartenberg eine »Willensstärkung«: »Schüttelt also eure Scham ab und lebt unter den Menschen.« (S. 131)
Im nächsten Kapitel stellt Kühn die »genetisch-phänomenologische Abbauanalyse« von Husserl dar. Bergson, Hartenberg und andere Philosophen setzten sich vor allem mit dem sekundären Schamphänomen auseinander, mit der sozial-intersubjektiven Seite der Beschämung. Husserl versucht, die »Urscham« zu verstehen, die Léon Wurmser als »absolutes Gefühl des Liebesunwertes« beschreibt. (S. 132)
Nochmals: Husserls phänomenologische Reduktion besteht darin, dass alle »objektivierenden« Theorien auf die unmittelbar naive Erlebnisweisen zurückgeführt werden. Scham ist ein Affekt, der ursprünglich durch die Abwendung der Mutter auftritt. Diese Nichtbeachtung wird als Scham erlebt und führt zur Blockierung und Hemmung der »affektiven Kraft«, die sich auf allen Ebenen des Selbst- und Welterlebens- und -bewertens auswirkt.
Das letzte Kapitel handelt von den therapeutisch-praktischen Konsequenzen, die sich aus den psychologischen und phänomenologischen Erkenntnissen ergeben. Im Französischen werden zwei Arten der Scham unterschieden, die primäre und die sekundäre. La pudeur meint die »radikal-subjektive Affinität, die sich an nichts Objektives ver-äußern lässt.« (145) Descartes nannte dagegen die sekundäre Scham »la honte«. Sie ist mit normativen Vorstellungen, sozialer Beschämung und der Entwertung des Selbstgefühls verbunden.
In der Psychotherapie geht es nicht nur um die Korrektur der selbstschädigenden Vorstellungen sondern auch »um die immanente Ermöglichung, der eigenen Affektivität ohne jene Angst zu begegnen.« (147) Denn phänomenologisch gesehen ist jedes Gefühl gut. Dem Patienten soll geholfen werden, den »Eigenwert seiner Affekte« aus der »Begriffsverwirrung« durch normative Vorstellungen zu befreien, den »Mut zur Unvollkommenheit« (Alfred Adler) zu fördern, der das »affektive Kindsein« und eine natürliche »Unverschämtheit« wieder möglich macht.
Dazu bedarf es der Aufarbeitung der Vorstellungen und Gedanken, die die Lebendigkeit ersticken. Denn Schamangst wird von selbst- und normbezogenen Erziehern vermittelt, die das »affektive Gutsein des Kindes« nicht anerkennen. Das »schlechte Gewissen wirkt wie ein Fremdkörper im Fleisch des lebendigen Kindes.« (149) und vergiftet das Selbstwertgefühl, die Lebensfreude und den Lebensmut. Psychotherapie kann dann zu einem »Fest des Lebens« werden, wenn das »unverletzte Kind« aus dem Kerker der Beschämung befreit werden kann und seine Lebenslust und Kreativität entfalten lernt.
Für diese Befreiung aus lähmender Scham-Angst und aus den düsteren Fängen der Gelotophobie sind der Einsatz von Humortherapie und das Humordrama besonders gut geeignet, wie Titze in vielen Veröffentlichungen darstellen und nachweisen konnte. (S. 150ff.) Der Weg aus dieser Entfremdung kann lange und beschwerlich sein, aber er führt zum befreienden gemeinsamen Lachen als Ausdruck unbeschwerter Lebensfreude. Denn: »Der Humor trägt die Seele über Abgründe hinweg und lehrt sie, mit ihrem eigenen Leid spielen.« (A. Feuerbach, S. 145)
Der von Michael Titze gestaltete erste Teil ist sehr gut lesbar und reich an Anregungen. Der phänomenologisch-philosophische zweite Teil von Rolf Kühn ist aufgrund der philosophischen Sprache und der ungewöhnlichen Sichtweise etwas anstrengender zu bewältigen. Aber es lohnt sich. Ich wünsche dieser facettenreichen Studie über ein elementares Thema des Lebens und der Psychotherapie viele Leserinnen und Leser.
|